Warum sich die Wirkung des öffentlichen Raums nur im Analogen entfaltet
Was denken Sie, wieviel Aufmerksamkeit hätte Ghandi bekommen wäre sein gewaltfreier Friedensmarsch, der übrigens bis heute immer wieder wiederholt wird, im Internet gewesen? Oder die Gelbwesten oder die Impfgegner? Die sozialen Medien wären voll von Infos, aber auf den Straßen wäre es ruhig geblieben. Wir hätten uns weiterhin vormachen können, alles sei in Ordnung. Damit wir sehen, wie es um die Demokratie und um unsere Gesellschaft beschaffen ist, brauchen soziale Bewegungen den öffentlichen Raum als sichtbaren Rahmen.
Für die STADTpsychologie erzählt der öffentlichen Raum Geschichten über Menschen und die Frage, wer den öffentlichen Raum nutzt und wer nicht. Damit beginnt auch die typisch psychologische Frage nach dem „dahinter“, also warum wird der Raum von jenen genutzt und von anderen nicht. Mit der sozialen Nutzung gehen weitere psychologische Fragen einher und zwar: wie wird der Raum, der Ort wahrgenommen, was ist seine Bedeutung für die Menschen und was gefällt oder auch nicht?
„In Abhängigkeit von sozialer Schicht, Gruppenzugehörigkeit oder Milieus wird Raum anders bewertet und erlebt.“
Um all dies zu erfahren bedient sich die STADTpsychologie zweier Methoden: einerseits des empirischen Stadtspaziergangs und andererseits mit Straßeninterviews. Beide Methoden sind mittlerweile standardisiert und liefern daher einen umfassenden Blick/oder Perspektive aus der Sicht jener, die den Raum nutzen. Es geht also darum zu erfahren, was die Menschen an einen Ort bindet, welche Erfahrungen sie mit ihm machen, was sie an der Gestaltung mögen oder aber auch, warum sie dem Ort fernbleiben.
Exkurs: Die sinnliche Wahrnehmung
Biologische Prozesse der Sinneswahrnehmung führen dazu, dass wir den öffentlichen Raum so wahrnehmen, wie wir ihn wahrnehmen. Wahrnehmungsprozesse laufen biologisch gesehen bei allen Menschen gleich ab, das heißt wir sehen, hören, riechen, spüren und tasten, aber die Aufmerksamkeit auf Dinge die wir wahrnehmen, wird individuell ausgerichtet. Menschen lenken ihre Aufmerksamkeit auf für sie relevante Geräusche, Gerüche etc. Diesen geben sie eine subjektive Bedeutung – oft auch unbewusst. Im Gehirn werden diese Informationen verarbeitet und es entsteht ein subjektiv sinnvoller Gesamteindruck. Festhalten wollen wir, dass diese Wahrnehmung ganz analog stattfindet, ohne elektronische Hilfsmittel und dass alle Menschen evolutionsbedingt Expert:innen darin sind. So gesehen, nimmt jede Person „ihren“ Ort anders war und er hat auch für sie eine ganz subjektive Bedeutung. Diese subjektiven Bedeutungen, die weitestgehend unsichtbar sind sofern man nicht darüber spricht oder ihnen einen grafischen/künstlerischen Ausdruck gibt, macht die STADTpsychologie, mithilfe der Methoden, sichtbar. Sei es durch das geschriebene Wort, sei es durch Bilder hinterlegt oder auch durch Skizzen und Zeichnungen, die wir von unterschiedlichen Nutzer:innen erhalten.
Sense of Place – der Ortssinn
Eine Beziehung zu einem Ort entsteht nur dann, wenn Menschen den Ort physisch, d.h. persönlich erlebt haben. Das heißt Orte überqueren, dort verweilen, riechen, hören, etwas anfassen gar verändern, erst das schafft einen persönlichen Eindruck. Im Vergleich zu virtuellen Begehungen eines Ortes, wo nur ein geringer Teil der Informationen vermittelt werden kann, weil jemand die Kamera, oder das Tool steuert und auf Dinge richtet, die ihm sehenswert erscheinen, bietet eine echte Begehung eine Vielzahl von Eindrücken und Informationen und das bei jeder Besucherin unterschiedlich.
Trotz der Vielfalt unterschiedlichster Wahrnehmungen gibt es dennoch einen Ortssinn, auch „Sense of Place“ genannt, der einen Ort ähnlich wahrnehmen lässt. Man spricht von Sense of Place, wenn die Beziehung zwischen Menschen und räumlichen Umgebungen charakterisiert wird (Caves, 2004), wenn ein Ort Eigenschaften hat, die andere Orte nicht haben. Für viele Menschen ist Sense of Place ein Gefühl das den Ort besonders, oder einzigartig macht – sowohl positiv als auch negativ – und nicht der Ort selbst.
Der Ortsinn und das sinnliche Wahrnehmen eines bestimmten Ortes oder Platzes in der Stadt sind zu pflegen, denn es ist etwas Besonderes ein Gespür für seine Umgebung zu entwickeln. Und obwohl täglich viele mit ihren Laptops und Smartphones, permanent vernetzt und räumlich entgrenzt, in die öffentlichen Räume drängen und dort halb analog, halb virtuell nach physischem, urbanem Flair suchen, um dann doch wieder, dank ihrer örtlichen Ungebundenheit in die Welt des Internets eintauchen, ist es immer noch der analoge der Raum, der den Rahmen dafür bietet.
Der analoge Stadtraum kann also wunderbar mithalten, mit der heutzutage scheinbar unverzichtbaren, technisch vermittelten Kommunikation und Entdeckung. Er schafft ein Erlebnis, das es im virtuellen Raum so nicht gibt – sinnlich und ganz unverfälscht.
Quellen:
- Ehmayer, C. (2014). „How to Diagnose a City – the Activating City Diagnosis (ACD) as a novel tool for participatory urban development“ >> Peer-Review-Journal „Community Psychology in Global Perspective“, 1/2017.
- Caves, R. W. (2004). Encyclopedia of the City. Routledge.
- Tuan, Yi-Fu (1977). Space and place: The perspective of experience. Minneapolis: University of Minnesota press.
Weiterführende Links:
- Download Details zum Ablauf des ESP – empirischer Stadtspaziergang, 2021
- Nachlese ESP: Das Wesen „Urban-Loritz-Platz“