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Gibt es die ideale Nachbarschaft?

Mit Nachbarinnen und Nachbarn lebt man mal mehr und mal weniger eng zusammen, darum wünschen sich viele eine „ideale Nachbarschaft“. Auch wenn sich diese Vorstellung nur selten erfüllt, lasen sich doch Rahmenbedingungen schaffen, die ein gutes Zusammenleben ermöglichen. Wie diese aussehen erklären wir in diesem Beitrag.


Was ist mit Nachbarschaft gemeint? 

Nachbarschaft ist nicht unbedingt ein bestimmter Ort, sondern eine soziale Gruppe deren primäres gemeinsames Merkmal die räumliche Nähe aufgrund des Wohnortes ist. Dennoch erzeugt das Zusammenleben an ein einem Ort als alleiniges Merkmal noch keine Nachbarschaft. 

Jeder Nachbar ein Gleichgesinnter?

Eine Verbindung zur Nachbarschaft entsteht besonders durch Ähnlichkeiten in Alter, Beruf, sozialer Schicht und Freizeitinteressen, die dazu führen, dass man miteinander ins Gespräch kommt und sich kennenlernt. Allerdings gibt es, obwohl man sich gut verstehen möchte, hin und wieder, Gründe sich zu streiten. Wie verstrickt wir mit Nachbarinnen und Nachbarn wirklich sind zeigt sich oft erst bei Konflikten.

„Man darf enge nachbarschaftliche Beziehungen nicht mit konfliktfreiem Zusammenleben gleichsetzen.“

Innerhalb der Nachbarschaft gibt es so manche Themen, die Konfliktpotenzial bieten. Wie man damit umgeht, wenn die Situation bereits festgefahren ist und welche Lösungsansätze es gibt, zeigen Nachbarschaftsvermittler:innen wie die Wiener „Wohnpartner“. Sie können als dritte Instanz helfen Streits zu lösen, die das Zusammenleben belasten.

Wie sieht eine ideale Nachbarschaft aus?

Der amerikanische Soziologe D. Popenoe hat bereits 1973 die „ideale Nachbarschaft“ beschrieben. Er zeigte Merkmale auf, die heute vielleicht nicht mehr ganz so streng genommen werden, aber dennoch Gültigkeit haben. Teilweise wurden sie auch ergänzt.

  1. Es gibt die Möglichkeit zu Interaktion & Austausch. Nachbar:innen, die für einen Plausch im Treppenhaus zu haben sind oder freundliche Blicke austauschen werden als sympathisch empfunden. Jeder sollte sich so verhalten, wie er es auch von anderen erwartet. Neugierige Blicke und zu private Nachfragen sind meist unerwünscht und wirken wie eine Art soziale Kontrolle. Das kann zu dann zu Distanzierung führen.
  2. Nachbarschaft bietet ein Gefühl der Sicherheit. Wohlbehagen in der Nachbarschaft entsteht dann, wenn man sich unter den Nachbar:innen zumindest flüchtig kennt und freundlich zueinander ist. Man grüßt sich und schaut halt irgendwie aufeinander.
  3. Menschen fühlen sich emotional mit dem Ort verbunden und identifizieren sich mit ihm. Je nach Lebensphase und sozioökonomischen Status hat die Nachbarschaft einen unterschiedlichen Stellenwert. Mit höherem sozialen Status nimmt die Bedeutung tendenziell ab, bessergestellte Menschen suchen den Kontakt zu den Nachbar:innen weniger. Für Kinder und Jugendliche ist die unmittelbare Nachbarschaft sehr wichtig, weil sie einen entwicklungsfördernden Rahmen bieten kann. Als junge Erwachsene verlassen sie dann oft das „Nest“ und bei der Familiengründung nimmt der Stellenwert von Nachbarschaft wieder zu. Im höheren Alter wird die Nachbarschaft sogar oft zur wichtigsten Kommunikationsquelle. Emotionale Bindung zu einem Ort entsteht durch Erfahrungen, die dann im Gedächtnis mit dem Ort verknüpft werden. Das verleiht ihm eine Bedeutung – der Ort prägt die Person. Gleichzeitig wird der Ort durch die individuelle Wahrnehmung geprägt, das passiert z.B. beim Aneignungsprozess. Das Wesen eines Ortes beruht daher auf Interaktionen zwischen Menschen, die dort stattgefunden haben und der subjektiven Wahrnehmung des Ortes.
  4. Forscher:innen ergänzen weiter, dass soziale Unterstützung und Hilfe ein weiteres Merkmal einer guten Nachbarschaft sind (Flade, 2020). Gerade in Städten wo unterschiedliche Menschen in Wohnumgebungen aufeinandertreffen, kann Diversität eine wichtige Ressourcen darstellen. Gute Nachbarschaften zeigen, dass durch gemeinsame Aktionen Wissen weitergegeben werden kann oder Hilfe und gegenseitige Unterstützung von und für verschiedene Altersgruppen möglich sind. Es geht also darum die Menschen einander näherzubringen, z.B. durch gemeinsame Aktionen, wie Gemeinschaftsgärten, Hilfsaktionen oder Nachbarschafts-Abende. Eine Gruppe die sich gegenseitig unterstütz kann mehr erreichen, als jeder einzelne für sich. Antje Flade (2006) prägte dazu den Begriff „Sozialkapital“.

Mal ehrlich: Wer lebt schon in einer Nachbarschaft, die alle genannten Ansprüche erfüllt?

In der heutigen Zeit geht es vor allem darum einen Rahmen zu schaffen, damit gute Nachbarschaften entstehen können. Wichtig sind kurze Wege, für alltägliche Besorgungen (max. 15 Minuten zu Fuß) und die Möglichkeit für Anrainer:innen, bei Entscheidungen die die Nachbarschaft betreffen, sich einzubringen, oder zumindest ihre Stimme abgeben zu können. Den Weg hierzu sollten Entscheidungsträger:innen in der lokalen Politik ermöglichen. Für motivierte Leute, die noch mehr machen wollen ist ein Gemeinschaftsgarten eine tolle Möglichkeit, um eine Beziehung zu Nachbarn und zur Stadt aufzubauen. Auch Kinder können dort etwas neues lernen und sich selbst einbringen.

Auch wenn es die „ideale Nachbarschaft“ im engeren Sinne nicht gibt und manchmal der Eindruck entsteht, dass in einer individualistischen Gesellschaft Nachbarschaft weniger wichtig ist, hat sie doch fundamentale Funktionen für eine gesunde Stadt – und für eine gute Stadtentwicklung. Gute Nachbarschaft ist kein Privileg, sondern jeder kann einen Beitrag Leisten, sei es Rücksicht aufeinander zunehmen für ein gutes Sozialklima, oder persönliches Engagement in den Initiativen in ihrem Grätzel. Dann hat man das Gefühl man lebt nicht nur in einer anonymen Nachbarschaft, sondern in einer wertvollen Gemeinschaft. Übrigens: am 3. Juni 2022 ist Nachbarschaftstag. Viele Wiener Akteur*innen laden zu Aktionen ein, wie Pflanzen-Tauschbörsen, Straßenfeste, Picknicks und vieles mehr. Jede und jeder kann mitmachen.

Foto: ©STADTpsychologie

 

Quellen:

  • Harold M. Proshansky, A. Fabian, R. Kaminoff: Place-Identity: Physical World Socialization of the Self. In: Journal of Environmental Psychology. Band 3, 1983, S. 57–83
  • Flade, A. (2006). Wohnen: psychologisch betrachtet. Huber.
  • Flade, A. (2020). Wohnen in der individualisierten Gesellschaft. Springer.
  • Hellbrück, J. & Fischer, M. (1999). Umweltpsychologie. Hogrefe. S. 420

Weiterführende Links:

  • Webseite der Wiener Wohnpartner 
  • Mehr Infos zum Nachbarschaftstag und den Nachbarschaftszentren gibt’s hier  

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