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Der Shibuya Scramble – Ein ESP an der meist-frequentierten Fußgängerkreuzung der Welt

Die STADTpsychologie zieht es im Urlaub gerne in unbekannte Städte. Die letzte Reise ging nach Tokyo, eine der größten Metropolen der Welt. Was wir hier in Europa von den asiatischen Megastädten lernen können, und welche Eindrücke, einer der meist-frequentierten Orte der Erde auf uns hinterlassen hat, erfahrt ihr im folgen Blogartikel.

Verfasst von: Addi Wala


Im Zentrum der größten Stadt der Welt

Tokyo ist mit ihren knapp 40 Millionen Einwohnern, die bevölkerungsstärkste Metropolregion der Welt. Es gibt zwar Städte, die mancherorts dichter besiedelt sind, doch wenn es um schiere Größe und Einwohnerzahl des urbanen Raumes geht, ist Tokio Spitzenreiter. Allein die innerstädtischen Bezirke haben mehr Einwohner als ganz Österreich zusammen. Für heimische Verhältnisse sind solche Zahlen kaum vorstellbar. Wenn es aber selbst in Wien zu Stau kommt, wie löst Tokio dann erst die diversen Herausforderungen des Transports und der Stadtentwicklung? Um diese Frage zumindest teilbeantworten zu können, führten wir einen Empirischen Stadtspaziergang (ESP) durch, und zwar an der belebtesten Fußgängerkeuzung der Welt.

Shibuya ist im Untergrund fast noch belebter als oberirdisch.

 

Shibuya Crossing ist eine Diagonalquerung (im englischen auch Scramble Crossing genannt), die im Herzen des Tokio Innebezirks „Shibuya“, direkt neben dem Shibuya Bahnhof liegt. Auch dieser zählt zu den größten der Welt und ist so gewaltig, dass wir von Einheimischen erfahren haben, dass man ihn nie als Treffpunkt nutzen sollte, da man sich nur sehr schwer findet. Als Tourist ist die Navigation fast unmöglich, was eine Karte, der Verbindungen und Ausgänge der nahegelegenen U-Bahn Station, verdeutlicht.

 

„Alles ist bunt, laut und blinkt“

Die Grenzen des Ortes sind schwammig—dies lässt sich bereits an den Bildern und Karten erkennen. Wir haben uns für unsere Analyse deshalb nur auf die eigentliche Straßenüberquerung konzentriert. Um Shibuya Crossing zu erkunden, hielten wir uns für mehrere Ampelschaltungen an der Kreuzung auf, überquerten diese mehrere Male und betrachteten den Ort von allen Richtungen. Was uns dabei direkt auffiel, war die Atmosphäre. Shibuya Crossing ist kein Ort, an dem man lange verweilen möchte. Einheimische Personen sind die Menschenmassen wahrscheinlich gewöhnt, doch für uns war der Ort, wie zu erwarten, mehr als hektisch. Dieses Gefühl wurde jedoch weniger durch die Menge an Menschen ausgelöst, sondern hauptsächlich durch das Umfeld. An der Kreuzung wird wenig miteinander geredet, doch trotzdem spricht alles. Die Werbetafeln werben nicht nur mit schrillen Farben, sondern auch mit Lautsprechern, Musik hallt aus den nahegelegenen Geschäften und selbst die Ampelschaltung ist mit einer Sprachfunktion ausgestattet – mit einem Wort: es ist extrem laut.

 

3000 Menschen warten auf 100 Autos

Shibuya Crossing wird von allen möglichen Personen und Gruppen frequentiert: Büroarbeiter*innen auf dem Weg von/in die Arbeit, Jugendliche und auch viele Tourist*innen. Was sie verbindet ist, dass sie auf dem Weg woanders hin sind. Uns kam der Gedanke, dass der Ort so sehr belebt ist, dass er schon wieder unbelebt wirkt. Die Kreuzung war voller Menschen, doch wirkte sie wie ausgestorben. Es gibt nichts, was man hier tun möchte und man wäre am liebsten bereits woanders. In jede Himmelsrichtung, in die man blickt, locken die Straßen bereits mit neuen und spannenderen Eindrücken. Das Wesen des Ortes dient einzig und allein dem Transit. Dies macht sich nicht nur an der Kreuzung bemerkbar, sondern auch am umliegenden Raum, denn bei so hohen Zahlen an Fußgängern wird natürlich jeder freier vertikaler Meter als teure Werbefläche genutzt.

Die horizontale Fläche dient hauptsächlich dem Verkehr, und zwar nicht dem der Fußgänger-, sondern dem motorisierten Individualverkehr. Was hierbei schockiert ist die Zahl der Autos. Die größte Fußgängerkreuzung der Welt geht nicht über eine geschäftige staubelastete Straße, sondern durch eine sechsspurige Kreuzung, über die verhältnismäßig wenige Autos fahren. Unseren Zählungen zufolge waren es nicht viel mehr als 100 Fahrzeuge, die per Ampelschaltung vorbeifuhren. Bei uns kam also sofort die Frage hoch: Warum ist Shibuya Crossing überhaupt eine Kreuzung?

Shibuya Crossing wird zu Stoßzeiten von bis zu knapp 3000 Menschen auf einmal überkreuzt. Tausende von Menschen warten also mehrere Minuten darauf, dass verhältnismäßig wenige Autos vorbeifahren. Die Menge an Autos war während unserer Beobachtung teilweise sogar so sporadisch, dass (wäre dieselbe Kreuzung in Wien), viele sie selbst bei Rot überquert hätten. Dass die Straße nicht vollkommen ausgelastet ist, merkt man auch daran, dass sie sogar von City-Gokarts für Tourist*innen genutzt werden darf. Es wurde uns also sofort offensichtlich, dass bei der Planung des Ortes, der uneingeschränkte Autofluss über die Bedürfnisse der Fußgänger*innen ging.

Fazit: Infrastrukturelle Meisterleistung, kulturelle Wüste

Dass Shibuya Crossing überhaupt funktioniert, ist eine stadtplanerische Meisterleistung. Züge, U-Bahnen, Autos, Fußgänger, Geschäfte, Büros – der Ort muss viele Bedürfnisse auf einmal erfüllen und tut dies auf beeindruckende Art und Weise. Es wird jedoch offensichtlich, dass einige dieser Bedürfnisse wichtiger gewertet werden als andere und, dass Fußgänger*innen wie anderenorts auch, zu kurz kommen. Die Gehsteige sind eng und überladen und Werbungen/Fenster ringen sich um jeden freien Platz auf den Häuserwänden, während die Straße gähnende Leere ausstrahlt. Da Shibuya Crossing hauptsächlich dem Transit dient, ist der Ort jedoch auch kulturell leer. Es fehlt an konsumfreien Momenten. Die Lichtershow ist zwar schön anzusehen, doch der einzige kulturelle Lichtblick, den wir fanden, war die berühmte Hachiko Statue. Diese ist der herzzerreißenden Geschichte eines Hundes gewidmet, der jeden Tag bei der Shibuya Station auf seinen Besitzer wartete, selbst noch nachdem dieser verstorben war.

Die Statue symbolisiert das Wesen des Ortes dabei sehr treffend. Es ist ein Ort des Wartens. Man wartet hier jedoch nicht nur bis die Autos vorbeigefahren sind, sondern auch darauf, bis realisiert wird, dass der uneingeschränkte Individualverkehr den Ort daran hindert sein volles Potential auszuschöpfen. Vielleicht wird der Shibuya Crossing ja eines Tages, ein Ort an dem man nicht nur wartet, sondern ein Ort, an dem sich die Bevölkerung treffen und zueinander finden kann.


Literatur

  • Download Details zum Ablauf des ESP: Empirischer Stadtspaziergang Anleitung
  • Eine Zusammenstellung bisher durchgeführter ESPs finden Sie >hier<
  • Ehmayer, C. (2014). Die Aktivierende Stadtdiagnose als eine besondere Form der Organisationsdiagnose: Ein umwelt- und gemeindepsychologischer Beitrag für eine nachhaltige Stadt- und Gemeindeentwicklung. Hamburg: disserta

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