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Helsinki auf der Couch

Ich, David Berghuber, nutzte mein Auslandssemester in Helsinki, um mich mit der Hauptstadt Finnlands näher zu beschäftigen. Nach ein paar Wochen Aufenthalt stand für mich fest, welcher Fleck Helsinkis auf die stadtpsychologische Couch kommt. Zur Diagnose habe ich dafür einen Empirischen Spaziergang (Ehmayer, 2014), gemeinsam mit meiner Studienkollegin Nahir Schuster unternommen. Aufgrund ihres Kunststudiums in Tel Aviv ist sie geübt darin, Orte sinnlich zu erfassen und war mir eine große Unterstützung. Es war Mitte Dezember, früher Nachmittag und hatte um die Null Grad Celsius. Da es die Tage zuvor Plusgrade hatte, ist vom vielen Schnee der letzten Wochen nicht viel mehr übrig als „Gatsch“ und graue Schneehügel.

Was wissen wir über diesen Ort und was macht ihn für uns interessant?

Inspiriert von einer Ausstellung im Helsinki City Museum und dadurch, dass ich selbst oft an diesen Ort gestoßen bin, ist mir dieses Grätzl nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Die mehrmalige Begegnung ist nicht verwunderlich, da dieser Ort eine Drehscheibe für öffentliche Verkehrsanbindungen ist. Neben der U-Bahn kreuzen hier vier verschiedene Straßenbahnlinien, sowie zwölf Buslinien. Das wohl charakteristischste Merkmal dieses Ortes sind seine mehrspurigen Straßen, an denen sich drei Stadtteile treffen: Sörnäinen, Alppiharju und Kallio. Da diese Zusammenkunft den Straßen elegant kurvig gelingt, wird der Ort auch Kurvi (dt.: Kurve) genannt (Wikipedia-Autor*innen, 2021).

Abbildung 3: Kallio war ein armer Arbeiterbezirk
Abb 1. Kallio war ein armer Arbeiterbezirk

Kulturell, sowie geographisch, kann man Kurvi zu Kallio zählen. Kallio ist ein alter Arbeiterbezirk, der jenseits der zum Stadtzentrum reichenden Pitkäsilta Bridge liegt. Von Altstadt im gewohnten Sinne kann ja nicht wirklich die Rede sein, da Helsinki an sich eine relativ neue Groß- und Hauptstadt ist. Erst nachdem Finnland 1812 von schwedischer in russische Herrschaft gefallen ist, wurde die Stadt wegen ihrer Nähe zu Russland so bedeutend.

Kallio ist bekannt als beliebter Drehort für Filme. Anfang der Ära der Silent Films zwischen den 1930ern und 50ern war dieser Bezirk der Hotspot für finnische Filme, die oft düster waren und von Jugendlichen handelten, die ihren letzten Ausweg im Verbrechen fanden. Auch der berühmte finnische Regisseur Aki Kaurismäki drehte viele seiner Filme dort. Heutzutage, nach einem nun jahrelang anhaltenden Zuzug der Mittelklasse, wird Kallio auch des Öfteren als sonnige Idylle dargestellt. Die Ausstellung „Streets of Crime and Love“ im Helsinki City Museum greift diesen Hintergrund auf und beschäftigt sich damit, inwiefern Fiction Filme, die in Kallio gedreht wurden, die Realität widerspiegeln (Helsinki City Museum, 2022).

 

The Great Curve

   Straßen der Liebe und Verbrechen

Sometimes the world has a load of questions

Seems like the world knows nothing at all

The world is near, but it’s out of reach

Some people touch it, but they can’t hold on

The Great Curve – Talking Heads

 

Das Wesen der Kurvi

Wir sind nun neugierig, wieviel von den Erzählungen heute noch übriggeblieben ist und begeben uns auf die Straßen der berühmt-berüchtigten Kurvi. Um einen ersten, ganzheitlichen Eindruck zu bekommen, stellen wir uns in den Winkel, an dem Helsinkis zweitlängste Straße namens Hämeentie von Norden kommend nach rechts in Richtung City Center abbiegt und nach links schwenkend zur Helsinginkatu wird. Übersetzt bedeutet das so viel wie „die Straße Helsinkis“. Hinter uns ragt das mächtige Gebäude in die Luft, welches seit 1937 entschlossen diese Straße teilt und Kurvi House genannt wird (Lehtoalho, 2006). Schnell wird uns klar, dass dieser Platz das Zentrum dieses Ortes ausmacht. Erwartungsgemäß ist diese Umgebung sehr stark frequentiert. Busse, Straßenbahnen, Autos und LKWs kommen im Sekundentakt auf uns zu und weichen entweder nach links oder rechts aus. Menschenmassen steigen in und aus öffentliche(n) Verkehrsmittel(n), überqueren die Straßen und verschwinden wieder. Unser erstes Bild ist von Hektik geprägt und wird von einer dementsprechenden Lautstärke untermalt. 

Abb 2. Das Zentrum der Kurvi

Um uns auch auf unsere anderen Sinne zu konzentrieren, verlassen wir uns darauf, nicht überfahren oder übertrampelt zu werden und schließen die Augen. Interessanterweise fällt uns jetzt auf, dass die Geräuschkulisse ausschließlich von Fahrzeugen erzeugt wird. Menschen sind kaum zu hören. Eine Gegebenheit in Helsinki, die mir schon sofort bei meiner Ankunft auffiel und für mich einen deutlichen Unterschied zu ähnlichen Orten in Wien, wie z.B. dem Praterstern oder dem Urban-Loritz-Platz ausmacht. Als ich meine Augen wieder öffne, bin ich überrascht, wie viele Menschen sich doch um mich herum befinden.

Abb 3. Gebäude mit Graffiti, Menschen sitzen am Straßenrand

Unsere Sehsinne wieder geschärft, begeben wir uns nun auf die Hämeentie Richtung Norden. Wir kommen entlang eines kleinen Kiosks, eines Cafés und Supermarktes, allesamt Standorte berühmter Ketten in Finnland. Darüber hinaus sehen wir vereinzelt Lokale, die in privatem Besitz zu sein scheinen. Eines haben jedoch alle Gebäude gemeinsam: Sie sind vollgesprüht mit Graffiti, egal ob es die Vitrine der bekannten Kioskkette ist, oder die Eingangstür, die zu einem Restaurant führt. Außerdem fallen uns die Männergruppen auf den Straßen auf. Es dauert nur wenige Minuten, bis ein Mann aus einer dieser Gruppen zu mir kommt und mich fragt, warum ich hier Fotos mache und mich auffordert, diese sofort zu löschen.

Abb 4. Ein typisches Lokal an der Kurvi

Da wir uns hier nicht sicher und willkommen fühlen, gehen wir die Hämmentie weiter Richtung Norden. Nun versuchen wir uns auf unseren Geruchssinn zu konzentrieren. Wir nehmen den Geruch nach Benzin und Lollipops wahr. Wir kommen an einem Lokal namens „All Star Sports Bar“ vorbei, das sehr typisch für diesen Ort wirkt. Durch Menschenmassen gezwängt, die wohl auf Busse warten, betreten wir dieses. Drinnen stoßen wir auf Glücksspielautomaten, die in Helsinki sehr üblich sind, und betrunken wirkende Besucher*innen an der Bar.

Einstweilen wird es dunkel draußen. Das macht jedoch nichts, da wir nun einerseits genügend Eindrücke von der Kurvi haben und andererseits glauben, dass dieser Ort bei Dunkelheit erst sein wahres Wesen zeigt. Somit begeben wir uns weiter Richtung Norden.

Ein- und Ausgänge des Ortes

Wir gehen bis zu einer Brücke, die für uns den logischen Aus- bzw. Eingang dieses Ortes abbildet. An der Brücke angekommen, drehen wir uns um und stellen uns vor, die Kurvi von stadtauswärts zu betreten. Von hier wirkt sie für uns nun wie eine gewaltige Schlucht, die alle ankommenden Fahrzeuge verschlingt. 

Abb 5. Die das Ende bildende Brücke

Wir begeben uns entlang der anderen Straßenseite wieder zurück in Richtung Kurvi House, wo sich auch die U-Bahn-Station befindet. Die große Straßenteilung dort stellt für uns das andere Ende dieses Ortes dar. Ein weiteres, alternativeres „Ventil“ der Kurvi soll jedoch nicht unerwähnt bleiben. Als Fußgänger*in erreicht man sie nämlich auch durch den Park Katri Valan Puisto.

Wie üblich in Helsinki, wurde dieser Park auf riesigen Felsen errichtet

Wir müssen eine längere Treppe bewältigen, um von der Straße dorthin zu gelangen. Das tun wir auch, was gar nicht einfach ist, da diese Treppe nicht wintersicher gemacht wird und wir uns daher mehr oder weniger am Treppengeländer hinaufziehen müssen. Durch die fehlende Schneeräumung zieht die Stadtverwaltung hier eine weitere Grenze zum Gebiet der Kurvi, zumindest für den Großteil des Jahres.

Abb 6. Eine nicht winterfeste Treppe zum Park

Oben angekommen, werden wir mit einem guten Überblick über das Zentrum der Kurvi belohnt. Es fühlt sich für uns an, als wären wir, innerhalb kürzester Zeit, dem ganzen Tumult entflohen. Wir nehmen von hier aus die Makroperspektive ein und betrachten das Geschehen von Außen, fast wie in einem Film. Es bietet sich hier eine gute Gelegenheit, unseren empirischen Stadtspaziergang Revue passieren zu lassen.

Von einem Ende der Kurvi zum anderen benötigt man zu Fuß zehn Minuten. Ob Menschen hier freiwillig spazieren gehen, stellen wir jedoch in Frage.

Diagnose: Kurvi-Syndrom

Erstens bewirkt die pausenlose Bewegung an diesem Ort ein Stressgefühl. Obwohl es durch die Fahrzeuge laut ist, ist es für uns letzendlich die Geschwindigkeit, die diesen Ort für uns unattraktiv macht und vom Verweilen abhält. Da ich von Wiener Verkehrsknotenpunkten eine andere Lautstärke gewohnt bin, zähle ich diese hier sogar als positiven Faktor. Von hier oben kann man sogar die Schritte im Schnee hören. Viel mehr Geräusche erzeugen die Personen ohnedies nicht. Einige von ihnen machen den Ort jedoch zusätzlich unattraktiv für uns. Angefangen von Männergruppen, die im Kreis stehend Verhandlungen zu führen scheinen, Obdachlose und offensichtlich Rauschgiftsüchtige, die benommen am Straßenrand sitzen, bis hin zu gehetzten Menschen, die mit Kopfhörern an den Ohren und in ihr Handy gaffend geradewegs nicht in uns hineinlaufen.

Im Sommer ist der attraktivste Platz sicherlich die Treppe, die zum Park führt und dort, wo wir gerade stehen. Die Leute und das Geschehen von hier oben zu beobachten ist eine spannende, aber auch entspannende Beschäftigung, die bei wärmeren Temperaturen und weniger Rutschgefahr durchaus ihren Reiz hätte.

Unseren Rundgang abgeschlossen und am Weg zur U-Bahn, bringt es meine Kollegin Nahir auf den Punkt: „Now I‘m feeling relieved!“ – wir sind erleichtert diesen hektischen Ort zu verlassen. Auf die Frage, wo wir nun einen Kaffee trinken und verweilen wollen, antwortet sie: „The places here don’t look nice to sit in. It’s not really an area where you want to stay long.” Ich stimme ihr zu und wir steigen in die U-Bahn, Richtung Kallio-Zentrum.  Wir hoffen dort etwas mehr von der vermeintlichen Liebe zu entdecken, die wir auf der Kurvi jedenfalls nicht gefunden haben.

Abb 7. Das mächtige Kurvi-House, das die Hämeentie entschlossen teilt

Autor: David Berghuber, Praktikant in der STADTpsychologie

Quellen

Fotos

©STADTpsychologie

©Abb. 1 Kallio. Aufgerufen am 03.01.23

 

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